Studie: Antidepressiva könnten Demenz beschleunigen

Eine neue Studie warnt vor den Gefahren bestimmter Antidepressiva bei Demenzpatienten. Diese Medikamente könnten den geistigen Abbau sogar beschleunigen und führen zu einem erhöhten Risiko für Knochenbrüche und Sterblichkeit. Experten fordern von Ärzten mehr Vorsicht.

Bestimmte Antidepressiva können einer Studie zufolge bei Demenzpatienten womöglich den geistigen Abbau beschleunigen. Ob sie wirklich verschrieben werden sollten, müsse darum für jeden Patienten gründlich geprüft werden, warnt das Forschungsteam im Fachjournal "BMC Medicine". Betroffen seien sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Medikamenten, die häufig zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden, weil sie den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen. Dazu zählen etwa Citalopram, Sertralin und Escitalopram.

"Diese Ergebnisse muss man ernst nehmen", sagte Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Entsprechende Hinweise habe es auch zuvor schon gegeben, vor allem für Trizyklische Antidepressiva (TZA), einer älteren Klasse von Antidepressiva, die anders als SSRI wirken und oft mehr Nebenwirkungen haben. Sie sollten daher bei Demenzkranken nicht verwendet werden. Ohnehin sei der Einsatz solcher Medikamente in dieser Gruppe von Patienten meist nicht sinnvoll: "Es ist schon lange bekannt, dass Antidepressiva bei Demenzkranken überwiegend kaum bis gar keine Wirkung haben."

Hirnstrukturen oft beschädigt

Hintergrund sei womöglich, dass die entsprechenden Hirnstrukturen bei den Betroffenen bereits beschädigt seien und sich nicht mehr durch solche Wirkstoffe beeinflussen ließen, erklärte Klaus Fließbach, Oberarzt am Uniklinikum Bonn. Auch könnten die Mechanismen hinter bestimmten Symptomen ganz andere sein als bei Menschen ohne Demenz. Von Apathie zum Beispiel sei rund die Hälfte der Patienten mit der Demenzform Alzheimer betroffen - sie sei bei ihnen aber kein Zeichen einer Depression. Vor diesem Hintergrund sei nicht verwunderlich, dass Antidepressiva in solchen Fällen nicht wirkten.

Generell hängen Depression und Demenz durchaus eng zusammen: Ein großer Teil der Demenzerkrankten zeigt Symptome, wie sie auch für eine Depression typisch sind, wie Schlafstörungen, geringeren Appetit, Unruhe, Aggressivität oder traurige Stimmung. Depressive Störungen wiederum können die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen.

Derzeit gingen Ärzte davon aus, dass SSRI- und sogenannte SNRI-Antidepressiva - eine weitere Gruppe von Antidepressiva - keine schädlichen Folgen für Demenzerkrankte haben, sagte Fließbach, Neurowissenschaftler am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn. Verwendet würden sie zum Beispiel bei Unruhe, gestörter Impulskontrolle oder eben der bereits erwähnten Apathie.

Experte: Mehr Vorsicht angebracht

Auch schon zu Beginn einer Demenz würden Antidepressiva in Deutschland nach wie vor häufig verschrieben, erläuterte Berlit. "Oft vom Hausarzt, der das zunächst nicht als Frühsymptom einer Demenz erkennt." Mehr Vorsicht bei Verordnungen für ältere Patienten sei durchaus angebracht - vor dem Hintergrund der neuen Ergebnisse erst recht: SSRI-Antidepressiva kommen dem DGN-Generalsekretär zufolge bei Älteren häufig zum Einsatz.

Wie auch die Forschenden um Sara Garcia-Ptacek vom Karolinska-Institut in Solna selbst zu bedenken geben, hat die Studie Einschränkungen, und die Ergebnisse sollten durch weitere Analysen geprüft werden. "Die Symptome der Depression können selbst schon zur Verschlechterung der Demenz beitragen", nannte Berlit ein Beispiel. Welcher Anteil der Beschleunigung darauf und welcher auf die Antidepressiva zurückgehe, lasse sich mit den vorliegenden Daten nicht bestimmen. "Die Ergebnisse sind extrem schwer zu interpretieren", betonte auch Fließbach. Die Studie zeige nur einen möglichen kausalen Zusammenhang - nachgewiesen sei er mit den Daten nicht.

Demenz-Test zeigt Verschlechterung

In die Analyse waren knapp 19.000 Menschen mit einem Durchschnittsalter von 78 Jahren einbezogen worden, bei denen eine Demenz neu diagnostiziert wurde und denen bis zu sechs Monate vor der Demenzdiagnose Antidepressiva verschrieben worden waren. Die geistige Funktion jedes Patienten wurde mittels eines Demenz-Tests erfasst, mit dem die Orientierung und das Kurzzeitgedächtnis gemessen werden.

Während der Nachbeobachtungszeit von im Schnitt etwa vier Jahren erhielten 23 Prozent der Patienten ein neues Rezept für ein Antidepressivum. Überwiegend handelte es sich um SSRI (65 Prozent der Verschreibungen). Höhere SSRI-Dosen waren mit einem höheren Risiko für eine schwere Demenz verbunden, definiert als eine stärkere Verschlechterung der Test-Werte eines Patienten. Bei Männern verlief die Verschlechterung schneller als bei Frauen.

Mehr Brüche und höhere Sterblichkeit

Die Studie lieferte zudem Hinweise auf ein höheres Risiko für Knochenbrüche und eine höhere Sterblichkeit in der Gruppe der Patienten, denen bei oder nach der Demenzdiagnose mindestens ein SSRI-Antidepressivum verschrieben wurde. Die Forschenden vermuten, dass sich bei weiteren Studien womöglich auch für eine andere Antidepressiva-Gruppe, die SNRI, solche Zusammenhänge zeigen könnten.

Fließbachs Fazit lautet, dass es sich um interessante Hinweise handelt, die aber zusätzlicher Abklärung bedürfen. Die Ergebnisse seien ein weiterer Grund, bei älteren Menschen vorsichtig zu sein, wenn es darum geht, Psychopharmaka zu verschreiben. "Es sollte streng geprüft werden, ob wirklich eine Notwendigkeit besteht." Dies sei auch aufgrund der möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten stets geboten. Gerade Senioren nehmen häufig eine Reihe verschiedener Präparate ein - wie diese sich gegenseitig beeinflussen, ist vielfach noch gar nicht genau bekannt.