US-Präsident Joe Biden habe den klassischen hegemonialen Führungsanspruch der USA wiederbeleben wollen, sagt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze im Interview mit ntv.de. "Trump will vor allem eines: Stärke zeigen." Die von der künftigen Bundesregierung angestrebte Führungsrolle in Europa bewertet Tooze zurückhaltend: "Ich plädiere seit langem dafür, die Rolle Deutschlands nicht zu überschätzen." Bisher habe Deutschland vor allem durch Blockaden eine zentrale Rolle gespielt. Wichtig sei, "dass Berlin nicht mehr Nein sagt".
Das Magazin "Foreign Policy" kürte Tooze zu einem der wichtigsten globalen Denker des Jahrzehnts. Gerade erst hat er das Wirtschaftsmagazin "Surplus" mitgegründet, das sich als "Gegengewicht zum wirtschaftsliberalen Mainstream" versteht. Im Interview mit ntv.de spricht Tooze über Trump 2.0, die amerikanischen Tech-Oligarchen und Deutschland als Vetospieler.
ntv.de: Professor Tooze, Sie sind der Meinung, dass Trumps zweite Amtszeit das Ergebnis einer Schwäche der Eliten in den USA ist. Was sind die systemischen Ursachen dieser Schwäche?
Adam Tooze: Für eine historische Einordnung ist es noch zu früh. Aber es gibt Veränderungen in der Republikanischen Partei, die wahrscheinlich in den 1990er Jahren begonnen haben. Erinnern Sie sich an die wirklich ausufernden Angriffe von Newt Gingrich auf die damalige Clinton-Administration? [Der Republikaner Gingrich war damals Sprecher des Repräsentantenhauses und spielte eine maßgebliche Rolle beim am Ende gescheiterten Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Bill Clinton.] Die Republikaner machten dann mit ihrer zum großen Teil radikalisierten Mehrheit im Repräsentantenhaus weiter. Es war eine Koalition der Nationalisten, die sehr stark in den Südstaaten verankert war.
Während der Wall-Street-Krise im Herbst 2008 kam es dann zum Durchbruch der Rechtspopulisten. Während John McCain Sarah Palin zu seinem Vize machte, konnte der damalige republikanische Präsident George W. Bush im Kongress keine Mehrheit für ein Rettungsprogramm für die Wall Street finden, obwohl der Zusammenhalt der amerikanischen Wirtschaft im Spiel war. Für mich ist das der Moment, in dem das Schwergewicht der unternehmerischen Interessen in die Mitte zu den Demokraten wanderte. Es waren die Demokraten Chuck Schumer und Nancy Pelosi, die schon damals die Fäden zogen, um das Rettungspaket durchzusetzen. Die gleiche Koalition hat auch 2020 die Covid-Pakete unter Trump geschnürt.
Das heißt: Schon seit 15 Jahren wird der harte Kern der amerikanischen Politik von einer Koalition angetrieben, die im Grunde ihr Schwergewicht in der Demokratischen Partei hat.
Und die Republikaner?
Seitdem Trump die Partei dominiert, machen sie eine vollends aufgelöste Politik. Sie liefern emotionale Kompensation. Politik wird zum Ausdruck einer inneren Krise, einer inneren Unzufriedenheit, eines Gefühls der Machtlosigkeit, das kompensiert werden muss. Sie liefern Deregulierung und Steuerermäßigungen für die Großverdiener. Und sie bedienen die handfesten und mehr oder weniger korrupten Interessen der Trump-Clique.
Verstärkt die soziale Ungleichheit dieses Narrativ?
Wenn wir uns die Wählerschaft der Republikaner anschauen, dann sind das im Wesentlichen die etwas Bessergestellten, also nicht die wirkliche Unterschicht. Arme Amerikaner sind tendenziell schwarz und wählen, wenn überhaupt, demokratisch. Es ist eher die verunsicherte untere Mittelschicht, die in diesem Populismus eine Befriedigung findet. Trump bietet vor allem weißen Männern ohne höhere Bildung einen Trost.
Markiert Trumps zweite Amtszeit den Beginn eines neuen Zeitalters?
Ich lese sowohl Trump 1.0 als auch Biden und Trump 2.0 als einen zunehmend verzweifelten Versuch amerikanischer Denker und Politiker, die Welt in einen Rahmen zu fassen. Bezeichnend für die gegenwärtige Situation ist das Missverhältnis zwischen dem Anspruch der USA, auf globaler Ebene noch gestaltend tätig zu sein, und den realen Möglichkeiten, die von beiden Seiten in der amerikanischen Politik in unterschiedlicher Form wahrgenommen werden. Biden wollte den klassischen hegemonialen Führungsanspruch zurück. Trump will vor allem eines: Stärke zeigen.
Unter der neuen US-Regierung ist der Einfluss der Tech-Oligarchen noch gewachsen. Erleben wir eine globale KI-Tech-Revolution, die sich auf die Politik auswirkt? Oder macht erst die Politik diese Revolution möglich?
Blickt man weit zurück, wird deutlich, dass die Entwicklung von Big Tech mit staatlichen Interessen verbunden ist. Man denke nur an die Geschichte des militärisch-industriellen Komplexes in Kalifornien. Zugleich besitzt KI in ihrer Entwicklungsdynamik eine Autonomie, die sich nicht auf die Anforderungen der Politik reduzieren lässt, sondern selbst zu einem historischen Faktor zu werden droht.
Unter Barack Obama war "Hollywood Big Tech" demokratisch. Die Grundtendenz der in Kalifornien ansässigen Internetfirmen, die eng mit dem Kapitalismus und großen Profiten verbunden sind, war bis vor kurzem liberal. In Trumps erster Amtszeit hatte es noch eine Kluft zwischen den großen Tech-Unternehmen und ihm gegeben. Das bröckelt jetzt. Was wir zunehmend sehen, ist ein Zynismus der großen Plattformen. Das ist der große Umschwung bei Leuten wie Mark Zuckerberg und Jeff Bezos, die von ihrer persönlichen Politik her sicher keine natürlichen Anhänger von Trump sind. Aber jetzt merken sie, woher der Wind weht. Etwas anderes ist es bei Elon Musk.
Sie haben in Ihrem Magazin davon gesprochen, dass man bei Trump und Musk fast von Machtergreifung sprechen müsse. Funktioniert das System der "Checks und Balances" in den USA noch?
Wir werden es herausfinden. Das Bild ändert sich von Tag zu Tag. Im Moment glaube ich, dass die Grundthese der Demokraten ist, dass die Trump-Leute mit Musk an vorderster Front sich selbst gegen die Wand fahren. Sie scheinen davon auszugehen, dass die wirklichen "Checks und Balances" weniger in den Gerichten liegen, schon gar nicht im Kongress, wo es wenig Widerstand gibt, sondern in den Märkten. Wir sehen das am Aktienkurs von Tesla, der empfindlich abgestürzt ist. Auch der Bondmarkt kommt in Betracht, wo es um die Wertpapiere des amerikanischen Staates geht. Die Akteure dort haben immer ein Wörtchen mitzureden. Und dann kommen die Zwischenwahlen 2026, wo die Demokraten auf eine Abstrafung der Republikaner hoffen.
Viele Demokraten sind enttäuscht, dass von den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, Barack Obama und Joe Biden kaum etwas zu hören ist.
Das finde ich auch bezeichnend. Man könnte fast von einer Kapitulation der Demokratischen Partei sprechen. Ich verbinde das unter anderem mit dem Chaos des letzten Jahres. Bidens Kandidatur wurde in letzter Minute abgesagt, dann wurde Kamala Harris in die Rolle gehievt. In diesem wirklich selbstzerstörerischen Prozess zeigte sich schon damals das Fehlen einer übergeordneten Elite in der Partei. Ich finde es schockierend, dass die Demokraten die Bedeutung der Auflösung der amerikanischen Institutionen nicht wirklich wahrnehmen.
Wir erleben das hautnah in unserer eigenen Institution. Die Johns-Hopkins-Universität hat 800 Millionen US-Dollar an Fördermitteln verloren, die Columbia-Universität 400 Millionen US-Dollar. Und wir sehen nur eine schüchterne, nach innen gerichtete Reaktion der Universitätsleitung.
Es ist das Gefühl, übertölpelt zu sein. Einerseits geht alles wahnsinnig schnell, es ist ungeheuer aggressiv. Und auf der anderen Seite ist es langweilig. Wir haben das schon mal erlebt. Es ist eine Wiederholung, es ist der alte Kampf, derselbe Irrsinn. Deshalb fehlt die ausdauernde Gegenwehr, die im Moment gefordert wäre.
Können Europa und Deutschland ein Gegengewicht bilden? Wird der wohl künftige Bundeskanzler Friedrich Merz Berlin zum Motor eines souveränen Europas machen? Gerade erst hat der Bundestag milliardenschwere Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur ermöglicht.
Helfen würde es bestimmt. Es ist ein sehr gutes Zeichen für Europa, dass Berlin jetzt wirklich handeln will. Die Idee, für die Sicherheitspolitik die Schuldenbremse zu lockern und durch die Aufnahme von Schulden einen Investitionsschub auszulösen, ist genau richtig.
Aber ich plädiere seit langem dafür, die Rolle Deutschlands nicht zu überschätzen. Es ist zwar die größte Volkswirtschaft in Europa, aber mit rund 85 Millionen Einwohnern nicht wirklich dominierend. Das sind nur 20 bis 30 Prozent Unterschied zu den anderen wichtigen EU-Akteuren.
Wo Deutschland aber wirklich eine zentrale Rolle gespielt hat, ist als Veto-Player. In der Politikwissenschaft spricht man von Spielern im System, die Nein sagen können. Worum es vor allem geht, ist, dass Berlin nicht mehr Nein sagt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat einem Waffenstillstand grundsätzlich zugestimmt. Kann das funktionieren?
Es ist eine fast unfassbare Herausforderung für eine Demokratie, nach einem solchen Krieg unter schlechten Bedingungen Frieden zu schaffen. Ohne Sieg. Ohne sagen zu können, wofür die Opfer gebracht wurden. Die ukrainische Kriegsführung ist heldenhaft. Aber wie soll man der ukrainischen Wählerschaft erklären, dass das jetzt das Ergebnis ist? Unter diesen Umständen kann es tatsächlich helfen - natürlich nicht, um die Wunden zu heilen und die Verluste auszugleichen, aber als eine Art Kompensation, - die Anbindung an die EU, massive Investitionen und einen Aufbauplan voranzutreiben.
Was fehlt Trumps Rohstoff-Deal mit Kiew, um als Marshall-Plan durchgehen zu können?
Es ist Trumps Kompensationspolitik. Machtpolitik pur. Erstens übertreibt er das, was Amerika tatsächlich geliefert hat, fast um das Dreifache. Zweitens ist der ganze Deal absurd. Auf den Karten sieht die Ukraine rohstoffreich aus. Aber es müsste erst einmal geklärt werden, ob diese Rohstoffe überhaupt wirtschaftlich und profitabel abgebaut werden können. Und wenn man Kiew keine Zukunftsperspektive bieten kann, dann ist die Lage aussichtslos. Selenskyj ist in der Vergangenheit immer wieder von rechts unter Druck geraten. Unter den jetzigen Bedingungen ist zu befürchten, dass dies noch extremer wird.
Es wird immer wieder behauptet, Trump wolle mit Moskau eine Art "umgekehrten Nixon" oder "umgekehrten Kissinger" spielen. Ist da was dran?
Trumps Russlandpolitik als "umgekehrten Kissinger" zu lesen, ist zu viel des Guten. Die Geschichte hat sich geändert. China und Russland heute sind nicht dasselbe wie China und die Sowjetunion damals. Für Trumps taktische Politik gegenüber Russland mag es eine Reihe von Motiven geben. Seine China-Politik ist allerdings bisher eher vage. In seiner ersten Amtszeit gab es ein ständiges Hin und Her zwischen einer eher pragmatischen, auf Deals ausgerichteten Linie, die, glaube ich, von Trump selbst kam, während im Unter- und Mittelbau eher die Falken unterwegs waren, die eine strategische Ausrichtung gegen China wollten. Wir müssen noch sehen, wie sich das in der jetzigen Administration austariert.
Als Kind wollten Sie Motorenkonstrukteur für Rennwagen werden. Mit welchem Treibstoff wird der Motor der Weltpolitik in den nächsten vier Jahren ohne Globalisierungstrends laufen?
Im Englischen gibt es den Ausdruck "to be running on fumes". Also mit Benzindämpfen fahren, ohne wirkliche Energie. Es ist schon haarsträubend, was im Moment passiert, wie dünn die Luft wird und wie schnell alles geht. Ich glaube nicht, dass wir jemals vergessen können, was sich im Oval Office zwischen Vizepräsident J.D. Vance, Trump und Selenskyj abgespielt hat. Das ist eine Form der Machtausübung, die man sich in einem Albtraum vorstellt. Das lässt sich nicht so leicht rückgängig machen. Liberale Amerikaner, die Zeitungen lesen, sind empört. Aber draußen auf der Straße ist das nicht das, was die Menschen bewegt. Ganz im Gegenteil.
Gibt es einen Ausweg?
Das weiß ich nicht. Aber was ziemlich sicher ist, ist, dass diesmal die Narben, die Schäden, von dauerhafter Natur sein werden.
Mit Adam Tooze sprach Ekaterina Venkina