Stundenlang wird Istanbuls festgenommener Bürgermeister von Polizei und Staatsanwaltschaft befragt und soll nun einem Richter vorgeführt werden. Während auf den Straßen Proteste toben, droht die staatliche Medienaufsicht den Berichterstattern mit Strafen und Lizenzentzug.
Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat Untersuchungshaft für den festgenommenem Bürgermeister und Erdogan-Rivalen Ekrem Imamoglu gefordert. Das berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Imamoglu sollte noch in der Nacht einem Richter vorgeführt werden.
Dem CHP-Politiker werden in zwei getrennten Verfahren Vorwürfe im Zusammenhang mit Terrorismus und Korruption gemacht. Laut Anadolu wurde in beiden Fällen Untersuchungshaft gefordert. Konkret gehe es bei den Korruptionsermittlungen um den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Erpressung, Bestechung, Betrug und Ausschreibungsmanipulation. Bei den Terrorermittlungen geht es demnach um den Vorwurf einer Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Imamoglu bestreitet die Vorwürfe vehement.
Die "unmoralischen und unbegründeten Vorwürfe" zielten darauf ab, sein "Ansehen" und seine "Glaubwürdigkeit" zu untergraben, sagte er nach einem fünfstündigen Polizeiverhör am Samstag. Das Vorgehen gegen ihn habe nicht nur das internationale Ansehen der Türkei beschädigt, sondern auch das Gerechtigkeitsgefühl der türkischen Öffentlichkeit und das Vertrauen in die Wirtschaft, so der 53-Jährige.
Beobachter sehen hinter dem Vorgehen gegen Imamoglu den Versuch der Regierung, einen politischen Kontrahenten auszuschalten und halten die Vorwürfe für fingiert. Auch der Protest auf den Straßen richtet sich explizit gegen die Regierung. Imamoglu gilt als aussichtsreicher Konkurrent des regierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der kommenden Präsidentenwahl. Die oppositionelle CHP will den Istanbuler Bürgermeister trotz seiner Festnahme am heutigen Sonntag als Präsidentschaftskandidaten nominieren.
In der landesweiten Abstimmung über die Kandidatur Imamoglus sind neben 1,7 Millionen Parteimitgliedern der CHP auch Bürger aufgerufen, symbolisch an 4.000 Wahlboxen im Land abzustimmen. Imamoglu ist der einzige Kandidat. Mit der Ergebnisverkündung wird am Sonntagabend gerechnet.
Regierungsnahe Behörde entscheidet über Kandidatur
Der Istanbuler Bürgermeister war am Mittwoch festgenommen worden. Seine geplante Kandidatur stand da bereits fest. Offizieller Kandidat ist Imamoglu aber erst, wenn die als regierungsfreundlich geltende türkische Wahlbehörde YSK seine Kandidatur bestätigt. Dass sie das tut, ist unwahrscheinlich, solange die Terrorermittlungen nicht aufgegeben werden. Imamoglu wurde zudem am Tag vor seiner Festnahme der Universitätsabschluss aberkannt. Ein Abschluss ist Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur in der Türkei. Die Entscheidung ist noch nicht endgültig.
Imamoglu selbst sagte bis in die Nacht vor der Staatsanwaltschaft aus, wie mehrere Medien berichteten. Danach soll er noch einem Richter zur Aussage vorgeführt werden. Dieser könnte Untersuchungshaft anordnen. Zuvor war Imamoglu am Samstag fünf Stunden lang auf einer Polizeiwache zu den Vorwürfen befragt worden.
Auch am Samstag waren wieder Zehntausende Menschen landesweit auf die Straße gegangen, um gegen Imamoglus Festnahme und die Unterdückung der Opposition zu protestieren. Vor dem Istanbuler Rathaus versammelte sich am späten Abend eine riesige Menschenmenge. Viele Protestteilnehmer schwenkten Flaggen und Plakate, auf denen gegen die Regierungspartei AKP gerichtete Slogans zu lesen waren, darunter "Diktatoren sind Feiglinge" und "Die AKP wird uns nicht zum Schweigen bringen". Bei Zusammenstößen am Rande der Proteste Gummigeschosse, Pfefferspray und Blendgranaten ein, wie Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten.
Der Vorsitzende von Imamoglus Partei CHP, Özgür Özel, sprach bei der Kundgebung vor dem Istanbuler Rathaus von "mehr als einer halben Million" Teilnehmern. "Heute Abend wird hier in Istanbul Geschichte geschrieben", rief Özel der Menge zu. Kurz nach Mitternacht gingen Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. Dabei wurden viele Menschen festgenommen, offizielle Angaben zu den Festnahmen liegen bislang nicht vor.
Auch in der Hauptstadt Ankara und der westtürkischen Stadt Izmir gab es erneut Massenproteste. In Ankara setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um die Demonstranten zurückzudrängen. In Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei, stellte sich die Polizei einem Protestmarsch von Studenten zu den örtlichen AKP-Büros in den Weg.
Medienaufsicht droht mit Lizenzentzug
Die türkische Medienaufsicht RTÜK drohte den Medien im Land im Falle von "unwahrer Berichterstattung" unterdessen mit Strafen und Lizenzentzug. "Wir fordern die Medien erneut auf, sich nicht auf parteiische und unwahre Berichterstattung zu stützen, sondern ausschließlich offizielle Informationen und Erklärungen der zuständigen Behörden zu veröffentlichen" schrieb der Chef der Anstalt, Ebubekir Sahin, auf der Plattform X. Andernfalls würden Maßnahmen ergriffen, die "bis hin zu langfristigen Sendeverboten und letztendlich sogar zum Lizenzentzug reichen". Er spreche "eine letzte Mahnung" aus. Berichten zufolge stellten einige Sender ihre Live-Berichterstattung von Demonstrationen im Land ein.
Ilhan Tasci, Mitglied in der Medienaufsicht für die Opposition, schrieb auf X, Sahin habe die Pressefreiheit im Land außer Kraft gesetzt. In mehreren Städten sind auch die Proteste selbst untersagt. Das Istanbuler Gouverneursamt hat das Versammlungsverbot zuletzt verschärft und verlängert. Nun gelten auch Zugangsbeschränkungen für die Stadt, wie aus einer Mitteilung des Amtes hervorgeht. Menschen, die etwa an Demonstrationen teilnehmen wollen, sollen nicht mehr in die Stadt gelassen werden. Es ist unklar, wie das umgesetzt werden soll.
Zusätzlich zu Demonstrationen und Versammlungen sind nun auch etwa das Aufhängen von Plakaten, das Verteilen von Flyern, Unterschriftensammlungen oder Gedenkveranstaltungen verboten. Alle Maßnahmen gelten der Mitteilung zufolge vorerst bis Mitternacht am Mittwoch.