Interview zum Koalitionsvertrag: "Digitale Souveränität ist eine Phrase"

>Das Digitalministerium ist längst nicht alles: Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union stecken ehrgeizige Pläne für die Digitalisierung, etwa eine "Digital Only"-Strategie mit einem verpflichtenden Bürgerkonto sowie ein Daten-Doppelerhebungsverbot für Behörden. Außerdem räumt der Vertrag dem Thema digitale Souveränität viel Raum ein. Stefan Heumann, Geschäftsführer des Think Tanks "Agora Digitale Transformation" ordnet die Pläne im Interview mit c't ein.

Herr Heumann, wie ehrgeizig ist der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD in Sachen Digitalisierung?

Es hat auch in der Vergangenheit nicht an Ehrgeiz gemangelt, sondern vielmehr an der Umsetzung. Der neue Koalitionsvertrag sticht im Vergleich zu früheren aber dadurch heraus, dass er Staatsmodernisierung und Digitalisierung zusammenbringt. Und erstmals werden diese beiden Themen in ein Ministerium überführt. Das ist der entscheidende Fortschritt in dem Papier.

Die Ampel zum Beispiel hatte auch einen digitalen Aufbruch versprochen und wollte auch den Staat modernisieren. Aber am Ende war dafür am Kabinettstisch niemand verantwortlich. Das ist jetzt schon ein großer Unterschied zur Vergangenheit und etwas, das ich sehr begrüße.

Warum ist das Digitalministerium aus Ihrer Sicht so wichtig, um die Ziele am Ende auch umzusetzen?

In der Vergangenheit war es ein riesiges Problem, dass in diesen ganzen Kompetenzwirrwarr und Abstimmungsrunden niemand so richtig verantwortlich war. Auch Volker Wissing hatte als Digital- und Verkehrsminister am Ende für viele Themen nicht die Verantwortung, ganz zentral zum Beispiel nicht für die Verwaltungsdigitalisierung. Die ist dann im Innenministerium immer hinten runtergefallen.

Allerdings sind Staatsmodernisierung und Digitalisierung klassische Querschnittsthemen. Daher wird entscheidend sein, mit welchen ressortübergreifenden Steuerungsmitteln dieses Digitalministerium ausgestattet wird. Dazu liest man im Koalitionsvertrag leider wenig. Ein Digitalbudget ist nicht explizit genannt, es wird nur von einer strategischen IT-Steuerung gesprochen. Auch eine Digitalagentur für die Umsetzung von Projekten wird nicht explizit erwähnt.

Ein häufiger Einwand gegen das Digitalministerium war, dass man durch den Aufbau der neuen Strukturen viel Zeit verliert, manche sprechen von bis zu einem Jahr. Wie berechtigt ist dieser Einwand?

Wenn man dem Argument folgen würde, würde man immer im Status quo hängenbleiben. Wir sollten uns die Zeit nehmen, um uns vernünftig aufzustellen. Es stimmt zwar, dass die Bundesverwaltung komplex ist und dass der Aufbau nicht so schnell geht, wie wir uns das wünschen würden, aber ein Jahr wird es vermutlich nicht dauern. Wenn wir im Kompetenzgerangel und ohne klare Zuständigkeiten weitermachen, verlieren wir noch mehr Zeit.

"Das Problem war nicht, dass wir bisher nicht ausreichend Geld in die Hand genommen hätten, wir haben das einfach nur schlecht investiert."

Im Bereich Staatsmodernisierung enthält der Vertrag zum Beispiel die Ansage, dass die föderalen Beziehungen neu geordnet werden sollen, auch mit einer Grundgesetzänderung. Wäre das ein Gamechanger für die Digitalisierung?

Für die Verwaltungsdigitalisierung auf jeden Fall. Bisher waren die extrem langsamen Abstimmungsprozesse zwischen Bund und Ländern eines der zentralen Probleme. Das war häufig mit Verhandlungen verknüpft, wer wie viel bezahlt. Das macht die Sache einfach extrem langsam, bis überhaupt mal losgelegt wird. Und auch danach sind die Prozesse extrem ineffizient, weil überall in den Ländern Softwarelösungen parallel entwickelt werden, was zu Insellösungen führt.

Daher ist es eine gute Sache, dass der Koalitionsvertrag die Änderung von Artikel 91c des Grundgesetzes anspricht. Dadurch könnte der Bund bei Basiskomponenten und Standards mehr Verantwortung übernehmen und auch IT-Lösungen für neue Gesetze gleich mitliefern. Das Problem war nicht, dass wir bisher nicht ausreichend Geld in die Hand genommen hätten, wir haben das einfach nur schlecht investiert.

Und die zweite gute Neuigkeit ist, dass auch die Digitalminister der Länder erst vor zwei Wochen ein Papier verabschiedet haben, in dem sie ebenfalls eine Neuregelung fordern.

Was das Thema Ehrgeiz angeht, fällt außerdem auf, dass SPD und Union von "Digital Only" sprechen und dementsprechend das Bürgerkonto und die digitale Identität verpflichtend machen wollen. Das ist eine klare Abkehr von der bisherigen Regel, dass die Bund ID freiwillig ist, oder?

Ja, und das ist eine der ganz großen Kontroversen im Bereich digitale Transformation von Verwaltung. Ein Problem, wenn man die Papierwege weiter offen hält, besteht darin, dass bei der Verwaltung nicht ausreichend Druck da ist, wirklich gute digitale Lösungen anzubieten. Und es führt dazu, dass Digitalisierung nicht als Entlastung wahrgenommen wird, sondern als etwas, das man on top machen muss. Wenn man wirklich vorankommen will, dann muss man Leistungen konsequent digitalisieren und das auch damit verknüpfen, dass der Papierantrag nicht mehr möglich ist. Das zeigen auch andere Länder.

Gleichzeitig braucht man eine Strategie, wie man nicht digitalaffine Bevölkerungsgruppen mitnehmen kann. Aber dafür gibt es Lösungen, zum Beispiel könnten die Bürgerämter die Menschen unterstützen. Es gibt zum Beispiel bei Bürgerämtern digitale Terminals, wo Menschen ohne Computer oder Smartphones digital Anträge stellen können und dabei unterstützt werden. In diese Hilfsangebote sollte man investieren, weil man durch den Verzicht auf die Papierprozesse viele Ressourcen einspart.

Es gibt im Vertrag einen weiteren ambitioniert klingenden Punkt, nämlich das Verbot für Behörden, Daten von Bürgern doppelt zu erheben. Glauben Sie, das bringt in der Praxis etwas? Schließlich ist schwer vorstellbar, dass eine Behörde zu Strafzahlungen verdonnert wird, wenn sie dagegen verstößt.

So ein Verbot wäre aktuell gar nicht umsetzbar, weil die Behörden in vielen Fällen noch gar nicht technisch in der Lage sind, Daten untereinander auszutauschen. Dafür müsste zunächst die Registermodernisierung umgesetzt werden. Meine Interpretation lautet, dass die Aussage den Druck in Sachen Registermodernisierung erhöhen soll. Da fehlen momentan die Anreize für eine schnelle Umsetzung. Daher finde ich die Diskussion dazu grundsätzlich gut.

"Es ist wichtig, eigene Fähigkeiten und Kapazitäten zu entwickeln."

Was ist Ihnen im Vertrag noch aufgefallen in Sachen Digitalisierung?

Spannend ist der europäisch-interoperable Deutschland-Stack und eine Referenz auf die relativ neue Euro-Stack-Initiative. Generell hat Digitale Souveränität eine hohe Prominenz. Das passt zu dem, was momentan geopolitisch los ist. Es ist wichtig, eigene Fähigkeiten und Kapazitäten zu entwickeln. Und der Staat gibt jedes Jahr Milliarden für IT-Beschaffung aus, das ist ein riesiger Hebel.

Ursprünglich wollte die SPD ein klares Ziel von 50 Prozent Open-Source-Anteil bei Beschaffungen. Jetzt ist nur noch von ambitionierten Zielen für Open Source die Rede.

Wie glaubwürdig ist das Versprechen der digitalen Souveränität, wenn kein hartes Open-Source-Ziel enthalten ist?

Ich bin kein Fan des Begriffs digitale Souveränität, weil das eine Phrase geworden ist. Am Ende kommt es darauf an, was man konkret reinschreibt. Und genau da sieht man weiterhin die Widersprüchlichkeit, die wir von vergangenen Regierungen kennen. Diese haben auch immer mit diesem Begriff operiert, hatten dann aber sehr wenig Konkretes anzubieten.

Deswegen ist es wichtig, dass der Koalitionsvertrag zumindest ein strategisches IT-Budget erwähnt. Damit könnte das Digitalministerium erfassen, welcher Anteil der IT-Ausgaben auf digitale Souveränität einzahlt, und umsteuern.

Der Begriff "Deutschland-Stack" wird im Papier nicht erläutert. Was verstehen Sie darunter?

Es ist in der Tat ein Problem, dass das nicht erklärt wird. Nach meinem Verständnis bezieht sich das auf die IT-Architektur des Bundes und der Länder mit entsprechenden Standards. Es ist wichtig, dass das Digitalministerium IT-Lösungen passend zu dieser Architektur beschafft, damit wir von Insellösungen wegkommen. Aber da muss man natürlich die Autoren des Koalitionsvertrages fragen, was sie sich dabei gedacht haben.

Dann wäre Deutschland-Stack also nur ein hippes neues Wort für das, was man vorher Government as a Platform, Plattformstrategie oder Standardisierung nannte, oder?

Ja, aber das ist ja manchmal die Kunst der Politik, dass man alten Wein in neue Schläuche gießen muss. Entscheidend wird einfach, dass man das jetzt auch mal implementiert. Und da bin ich verhalten optimistisch. Denn die Chancen stehen jetzt besser, dass die Länder das mittragen. Das zeigen die Beschlüsse der Digitalministerkonferenz.