Auch die neue Regierung lässt sich in ihrem Koalitionsvertrag von falschen Wahrheiten leiten: noch mehr Mütter-Rente und weiter Rente mit 63. In Deutschland wird eher die Altersversorgung erhöht als die Steuer gesenkt.
Wer die Worte hat, hat die Wahrheit: In Deutschland kann man das Wort "Rentner" oder "Rentnerin" nicht mehr hören, ohne nahezu automatisch das Wort "Armut" mitzuhören oder mitzudenken. Diese falsche Wahrheit verfestigt sich zu einem Rahmen und prägt die praktische Politik. Konservative und Liberale lassen es mehr oder weniger kampflos geschehen. Wieder und wieder wird eher etwas für die (vermeintlich) armen Rentner getan als für die nachweislich bedürftigeren Familien oder die Alleinerziehenden und deren Kinder. Auch werden in Deutschland eher die Renten extra erhöht als die Steuern gesenkt. Schließlich gilt, wer Steuern zahlt, im Zweifel als wohlhabend und wer Rentner ist als im Zweifel arm. Das kostet jedes Jahr zig Milliarden, die in wachsendem Maße aus dem Bundeshaushalt aufgebracht werden, weil die Rentenkasse und die Beitragszahler überfordert sind - und trotzdem mit der jüngsten Rentenreform noch einmal stärker herangenommen werden.
In ihrem Ende 2024 veröffentlichten Alterssicherungsbericht konstatiert die Bundesregierung selbst: "Insgesamt ist die heutige Rentnergeneration überwiegend gut abgesichert." Für Senioren-Ehepaare weist der Bericht ein gesamtdeutsch durchschnittliches Nettoeinkommen von 3759 Euro pro Monat aus (Ende 2023). In den ostdeutschen Bundesländern sind es 2577 Euro. Das muss eine Familie mit Alleinverdiener und Kindern erst einmal schaffen.
Ohne Merkel und Müntefering wäre die Rentenversicherung heute vermutlich pleite
Nur einmal in den vergangenen zwei Jahrzehnten siegte die Vernunft: Als Angela Merkel und Franz Müntefering in der ersten Großen Koalition die "Rente mit 67" durchpaukten. Ohne die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die einhergehende Verkürzung der Auszahlzeiten wäre die Rentenversicherung heute vermutlich pleite - oder noch stärker am Tropf des Bundeshaushaltes. Ansonsten steuert Prekariats-Propaganda die deutsche Rentenpolitik: Kein anderes Gesellschaftsfeld wird dermaßen fortgesetzt und umfänglich mit der Gießkanne bedient.
So wurde ab Mitte der 2010er Jahre in zwei Etappen die "Mütterrente" eingeführt und erhöht, ein Wunsch vornehmlich der CSU: Die SPD ist nicht die einzige Partei emsiger Sozialpolitiker. Das über Jahre gepflegte (Zerr-)Bild der bitterarmen Rentnerin, die im Monat nur ein paar Hundert Euro aus der gesetzlichen Kasse bekommt, tat damals seine Wirkung. Weibliche Altersarmut mit Grundsicherungsbedarf, noch dazu die der Mütter, existiert zwar nur in einigen Hunderttausend Fällen, aber in der Politik ist sie das maximale Kaliber. Wer gegen die Bekämpfung der (vermeintlichen) Frauenarmut im Alter ist oder auch nur Zweifel an ihrer Verbreitung hegt, muss sich nicht bloß im Deutschen Bundestag warm anziehen.
Die Mütterrente bringt Millionen Frauen also mehr Rentenpunkte, weil sie mehr Jahre der Kindererziehung anrechnen können und somit im Vergleich zu jüngeren Müttern nachziehen. Dass das Verfassungsgericht mit der Ungleichbehandlung der Müttergenerationen kein Problem hatte - egal. Dass damit vermutlich auch Millionen von Frauen die Rente erhöht wird, die es zumindest materiell nicht brauchen, weil sie an den Rentenansprüchen ihrer Ehemänner, der Väter, teilhaben - auch egal. Im Jahr 2023 summierten sich die Mehrkosten für die Mütterrente auf 13 Milliarden Euro jährlich, Tendenz steigend. Über mögliche Streuverluste mochte die damalige Bundesregierung auch auf parlamentarische Nachfrage keine Antwort geben. Eine Bedürftigkeitsprüfung, die den Namen verdient, war unterblieben.
Das Bild vom Dachdecker ist stärker als die Realität
Die zweite Fehlleistung nach Fehlsteuerung ist die "Rente mit 63". Andrea Nahles setzte sie 2014 als SPD-Chefin und Arbeitsministerin durch. Stärkster politischer Antrieb hier: zum einen das Bild vom ausgezehrten Arbeiter, der nach 45 Jahren Maloche mit 63 Jahren ohne Abschlag in Rente dürfen soll. Zum anderen das Bild von der Altersarmut, die jenen drohe, die mit hohen Abschlägen in die Rente müssen, weil sie zu früh im Leben einfach nicht mehr können. Der unbekannte Mann, der mit 65 nicht mehr "aufs Dach" soll, beherrschte die öffentliche Debatte, als gäbe es mehr Dachdecker in Deutschland als Verwaltungsangestellte oder Facharbeiter in der Autoindustrie. Wie viele Männer und Frauen ein solches Schicksal seinerzeit wirklich traf - früher in Rente zu müssen wegen körperlicher Auszehrung -, wurde meines Wissens nach nie ermittelt. So ist auch nie ernsthaft diskutiert worden, ob es nicht präziser wirkende Mittel geben könnte als die ganz große Sozialgießkanne. Das Bild vom Dachdecker, der mit Anfang 60 nicht mehr kann und in Altersarmut endet, weil er weit vor 67 in Rente muss: Es war stärker.
Als Chefin der Bundesagentur für Arbeit sagt Andrea Nahles inzwischen: "Die unseligen Frühverrentungen nehmen zu." Sie richtet diesen Vorwurf an die Unternehmen, aber das Gesetz, das fehlgeht, meint sie ebenso. Längst hat sich herausgestellt, dass die "Rente mit 63" in großem Stile Gruppen begünstigt, die sie nicht nötig haben und für die sie nicht gedacht war: Vor allem überwiegend gesunde Angestellte mit mittleren Einkommen nehmen die Rente mit 63 in Anspruch - nicht aber krankheitsgeplagte Geringverdiener. Der Grund: Die Geringverdiener können es sich oftmals nicht leisten, auf das Gehalt ihrer letzten Berufsjahre zu verzichten.
Die Rente mit 63 begünstigt nicht nur "die Falschen", sie behindert die Unternehmen beim Wachstum, sie gefährdet mithin Arbeitsplätze. "Wir können es uns nicht leisten, dass hauptsächlich eigentlich gesunde und oftmals gut verdienende Menschen mit 63 in Rente gehen", sagt der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er sorgt sich für sein "Ländle" um den Aderlass bei Fachkräften. Im Jahr 2023 erreicht die abschlagslose Frühverrentung einen weiteren Rekordwert: 279.000 Versicherte nutzen die Rente mit 63. An ihr dennoch festzuhalten, ist Sinnbild der deutschen Rentenpolitik und beweist, wie stark das irreführende Framing wirkt: "Rentner sind arm. Darum kann es keinen Falschen treffen." So ein Unfug.
Dabei werden die Forderungen lauter, wonach den Rentnern weiter Gutes getan werden müsse, damit sie nicht in Scharen - wie zuvor die Arbeiter - zu den Extremen überlaufen. Deshalb bekommen große Gruppen der Rentner womöglich immer neue, immer größere steuerfinanzierte Zuwendungen, die jüngere Gesellschaftsgruppen dringender bräuchten oder die für andere Ziele besser eingesetzt wären. Diese Geister, diese Irrtümer, wird die Republik nicht mehr los. Zu spät.
Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Falsche Wahrheiten: 12 linke Glaubenssätze, die unser Land in die Irre führen" von Nikolaus Blome. Der Autor ist Politikchef von RTL und ntv.