Kurz vor dem bundesweiten Rollout der elektronischen Patientenakte (ePA) haben das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Einigung erzielt, die Kinder und Jugendliche besser schützen soll. Nachdem der Berufsverband der Kinder- und Jugendärztinnen (BVKJ) sich lange dafür eingesetzt hatte, soll eine neue Richtlinie Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen mehr Handlungssicherheit geben und das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen. Kinder dürfen erst ab einem Alter von 15 Jahren selbst über ihre ePA entscheiden.
Die neue Regelung (PDF) sieht vor, dass Praxen nicht verpflichtet sind, die ePA von Kindern unter 15 Jahren zu befüllen, "sofern dem erhebliche therapeutische Gründe entgegenstehen" oder "gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohles eines Kindes oder eines Jugendlichen vorliegen und die Befüllung der elektronischen Patientenakte den wirksamen Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Frage stellen würde". In solchen Fällen hat der Schutz des Kindes Vorrang vor der digitalen Dokumentationspflicht. Die Entscheidung, Daten nicht einzustellen, muss in der Behandlungsdokumentation festgehalten werden.
"Wir sind froh über die Einigung mit dem BMG, dass die ePA nicht mit Informationen befüllt werden muss, die das Kindswohl gefährden könnten", so BVKJ-Geschäftsführer Tilo Radau. Heikel sei bei manchen Eltern etwa die Information, wenn eine 14-Jährige sich die Pille verschreiben lässt. Als weiteres Beispiel nannte Radau, wenn das Kindswohl beispielsweise bereits durch die Eltern gefährdet ist und in der ePA Hinweise auf die Dokumentation von Vorfällen zu finden sind. Ist ein Elternteil Hauptversicherter, aber nicht sorgeberechtigt, kann das zu Konflikten führen – beispielsweise, wenn ein Kind über den neuen Partner der Mutter familienversichert ist.
Das BMG hatte zuvor gegenüber dem BVKJ und der KBV eingeräumt, dass durch vertrauliche Informationen in der ePA das Kindeswohl gefährdet werden könnte. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach betonte laut dem Schreiben, das der Ärztezeitung vorliegt, es dürfe "auf keinen Fall zu gefährlichen Situationen für das Wohlergehen von Kindern kommen".
Und die Abrechnungsdaten?
Unklar ist jedoch, wie das BMG verhindern will, dass durch die Abrechnungsdaten Rückschlüsse auf Behandlungen oder eine Kindswohlgefährdung gezogen werden können. Diese stellen die Krankenkassen bei allen gesetzlich Versicherten, die nicht widersprochen haben, automatisch ein. Lauterbach hatte im Schreiben laut Ärztezeitung Maßnahmen versprochen: "Im Zusammenhang mit der Darstellung der Abrechnungsdaten in der ePA und damit einhergehend der Sichtbarkeit von Maßnahmen in Bezug auf den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung werden wir Maßnahmen ergreifen, die die Identifizierung verhindern".
Auf die von Lauterbach angekündigten Maßnahmen ging eine BMG-Sprecherin nicht ein, wies aber unter anderem auf die Widerspruchsmöglichkeit hin: "Die Abrechnungsdaten aller ePA-Nutzer werden automatisch durch die Krankenkassen in die ePA eingestellt, es sei denn, der Versicherte widerspricht. Ein Widerspruch ist jederzeit möglich, zum Beispiel über die Ombudsstelle der Krankenkasse oder über die ePA-App. Über die ePA-App können Versicherte, nicht Ärzte oder Krankenkassen, die Abrechnungsdaten außerdem einsehen und verwalten, also zum Beispiel für alle Leistungserbringer verbergen (die Abrechnungsdaten sind dann nur für den Versicherten selbst einsehbar)".
Ärzte gegen automatische ePA für Kinder
Erst kürzlich hatte die Ärztekammer Niedersachsen gefordert, die Opt-out-Regelung bei Kindern und Jugendlichen in eine Opt-in-Regelung abzuschaffen, wie der Ärztenachrichtendienst berichtet hatte. Als positives Zeichen sieht die Ärztekammer demnach, dass das BMG die Problemstellung bei der Datenerfassung von Kindern und Jugendlichen erkannt hat. Außerdem sollen die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet werden, Jugendliche ab 15 auf die Möglichkeit der Datenlöschung aufmerksam zu machen. Ebenso fordert die Ärztekammer Niedersachsen in einer Resolution, dass die Daten bis zum 18. Lebensjahr "nicht zur Beurteilung von Versicherungsleistungen, Einstellungskriterien oder weiteren, den Lebenslauf bestimmenden Beurteilungen verwendet werden" genutzt werden dürfen.
Alle Daten sensibel
Aus Sicht von Silke Lüder von der Freien Ärzteschaft "verlagert das Zugeständnis des Gesundheitsministeriums die Frage 'was ist ein sensibles Datum' auf das Gespräch zwischen Ärzten und Eltern." Jedoch seien alle Daten, unabhängig vom Alter, sensibel. "Für alle Medizindaten gilt gleichermaßen die ärztliche Schweigepflicht und es sollte für jeden Menschen die Opt-in-Regel gelten, also eine echte informierte Zustimmung des Versicherten", so Lüder. Sie plädiert dafür, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch bei der ePA gewahrt wird.
Zusätzlich regelt eine weitere Richtlinie, dass während der Einführungsphase der ePA bis zum 31. Dezember 2025 keine Sanktionen gegen Ärztinnen und Psychotherapeutinnen ausgesprochen werden, wenn die ePA vorübergehend nicht genutzt wird. Beide Richtlinien wurden mit dem Ministerium abgestimmt und mit ihrer Veröffentlichung rückwirkend zum ersten April in Kraft getreten.