Ab wann Shoppen zur Krankheit wird

Dinge kaufen ist eine tolle Sache, wird uns von Kindesbeinen an suggeriert. Doch wann wird das Shoppen zur Sucht? In Zeiten von Social Media verfallen Menschen noch leichter in einen Kaufrausch - und shoppen sich um Geld, Lebensglück und ihre psychische Gesundheit.

Wohl jeder hat sich schon mal zum Spontankauf von Dingen verleiten lassen, die eigentlich gar nicht benötigt wurden. "Ab und an ein Impulskauf, das ist normal", sagt Astrid Müller von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Bei manchen Menschen bekomme das Shoppen aber oberste Priorität und könne selbst dann nicht begrenzt werden, wenn finanzielle oder familiäre Probleme entstehen. "Bei Kaufsucht greifen ganz ähnliche psychologische und neurobiologische Mechanismen wie bei Substanzabhängigkeiten", erklärt Müller. "Im Gehirn kommt es zu einem Ungleichgewicht zwischen Signalen, die das Suchtverhalten anregen, und der Kontrolle über diese Signale."

Dinge kaufen ist eine tolle Sache, wird uns in konsumorientierten Gesellschaften von Kindesbeinen an suggeriert. Selbst die Jüngsten sind bei Werbung für Spielzeug oder Süßigkeiten schon Zielgruppe. Dass exzessives Shoppen in einer schwer zu besiegenden Krankheit münden kann, ist vielen Menschen gar nicht bewusst, wie Müller sagt. "Kaufsucht ist definitiv unterdiagnostiziert", betont Julia Reutermann-Kämmerer vom Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP) in Lübeck.

Sehr viele Menschen sind gefährdet

Vor rund zehn Jahren wiesen Daten darauf hin, dass etwa fünf Prozent der Menschen in Deutschland Kaufsucht-gefährdet sind. "Wir gehen von einer merklichen Zunahme seither aus", sagt Müller, Leiterin der Arbeitsgruppe für substanzungebundene Abhängigkeitserkrankungen an der MHH-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie.

Wurde die fürs Shoppen verfügbare Zeit einst noch von Ladenöffnungszeiten oder den Sendezeiten der Shoppingsender begrenzt, hat der elektronische Handel den Kauf rund um die Uhr möglich gemacht. Mit den Shopping-Apps fürs Smartphone selbst nachts im Bett, während der Vorlesung oder auf dem Klo. "Mit der Verfügbarkeit steigt das Risiko", erklärt Reutermann-Kämmerer, Oberärztin im Bereich Suchterkrankungen.

Zunehmend werden zudem Beiträge in sozialen Medien mit Shopping-Angeboten verknüpft - etwa, indem Influencer ein vermeintlich großartiges Produkt nach dem anderen bewerben, wie Müller ergänzt. "Sehr kritisch" sei ein ganz neues Angebot zu sehen: Die chinesische Kurzvideoplattform TikTok hat auch in Deutschland eine Shoppingfunktion in ihrer App gestartet, auf der Unternehmen und Influencer für sich werben und ihre Produkte verkaufen können. Die entsprechenden Videos und Livestreams erscheinen im normalen Feed. Die Funktion wird schrittweise eingeführt und ist nicht sofort für alle Nutzer zu sehen.

Tiktok Shop weckt Befürchtungen

"Tiktok Shop startet endlich auch in Deutschland", titelte ein E-Commerce-Newsportal bereits vor Kurzem. Andere Länder seien schon länger in den "Genuss von Kommerz auf Tiktok" gekommen, nun könnten sich endlich auch Verkäufer in Deutschland dafür registrieren. Wer beispielsweise ein Parfüm bewerben will, kann einen Link setzen und das Produkt direkt in der App verkaufen.

Tiktok Shop bringt das Einkaufen direkt dorthin, wo sich viele Menschen ohnehin schon über Stunden täglich aufhalten. Unterhaltung wird mit Verkauf verbunden. Ziel sind möglichst viele Spontankäufe von Nutzern und Nutzerinnen, gestützt auf hochpersonalisierte Inhalte dank Künstlicher Intelligenz und Unmengen an Nutzerdaten. Das Risiko, in eine Kaufsucht zu rutschen, steige mit Social Commerce noch einmal mehr, befürchtet Müller.

Eine besondere Gefahr sehen Experten auch deshalb, weil Social-Media-Plattformen wie Tiktok vor allem bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beliebt sind. "Junge Menschen sind besonders Kaufsucht-gefährdet, weil bei ihnen die Verhaltenskontrolle noch nicht so ausgeprägt ist", erklärt Reutermann-Kämmerer. "Sie agieren wie in anderen Lebensbereichen auch beim Shoppen impulsiver."

Männer kaufen anders - aber nicht weniger

Manche Studien weisen darauf hin, dass Frauen von Kaufsucht stärker betroffen sind als Männer. Müller sieht das differenzierter: Wenn Frauen Kleidung, Schuhe, Deko oder Kosmetik weit über den eigentlichen Bedarf kauften, werde das schnell als kaufsüchtig bezeichnet. "Männer kaufen andere Sachen, aber nicht unbedingt weniger." Sie horteten Werkzeug, Sportartikel, Angelzubehör oder Elektronik oder gäben Unsummen für käufliche Zusatzangebote in Computerspielen wie virtuelle Güter oder Währungen aus. "Das geht dann als Hobby durch, obwohl es genauso in einer Kaufsucht münden kann."

Kennzeichnend für eine Kaufsucht ist, dass nichts anderes im Leben mehr ähnlichen Stellenwert hat. Unfassbar viel Zeit werde investiert - nicht nur in Käufe, sondern allein schon in Preisvergleiche und das Stöbern nach neuen Waren, erklärt Reutermann-Kämmerer. "Es geht nicht allein um die Zahl getätigter Bestellungen", betont sie. Oft komme es zu familiären Problemen, Treffen mit Freunden und Hobbys würden vernachlässigt, finanzielle Probleme häuften sich.

"Mit immensen Schuld- und Schamgefühlen verbunden"

"Manche bekommen dreimal täglich einen Kaufrausch", sagt Müller. "Sie verlieren völlig die Übersicht über ihre Ausgaben." Viele häuften große Schulden an, manche stünden nach Bestellungen unter anderem Namen oder Kreditkartenmissbrauch letztlich wegen Betrugs vor Gericht. Die Krankheit sei mit immensen Schuld- und Schamgefühlen verbunden. "Die Betroffenen sehen durchaus, dass das alles nicht richtig ist, sie können aber trotzdem nicht aufhören."

Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird die Kaufsucht den Impulskontrollstörungen zugerechnet. Das zwanghafte Einkaufen hängt mit dem Dopamin-Belohnungssystem zusammen, das auch bei Drogenabhängigkeit eine Rolle spielt, wie Analysen zeigten. Jeder Einkauf bringt Freudegefühle - die allerdings mit fortschreitender Kaufsucht immer kürzer anhalten, wie Müller erklärt.

Warum wird der eine süchtig und andere nicht?

Doch warum schaffen es Menschen, den stetigen Kaufanreizen mehr oder weniger gut zu widerstehen, während andere eine Sucht entwickeln? Kaufsüchtige seien keine homogene Gruppe etwa aus einer bestimmten Bevölkerungsschicht, erklärt Müller. Zwei Merkmale aber seien bei allen zu finden: Selbstwertprobleme und eine streng materielle Werteorientierung. "Erkennbar daran, dass ich Sätzen zustimme wie: "Ich bin, was ich besitze" oder "Wenn ich alle Dinge hätte, die ich mir wünsche, wäre ich glücklicher"."

Vielfach hätten Betroffene psychische Probleme wie eine Angsterkrankung, depressive Symptome oder eine von Essanfällen geprägte Binge-Eating-Störung. Allerdings lasse sich vielfach nicht sagen, was zuerst da war: Kaufsucht oder psychische Symptome. "Eine Kaufsucht ist extrem belastend und kann Ängste und depressive Gedanken aufkommen lassen, diese müssen nicht zuerst dagewesen sein."

Oft sei der Kaufrausch eine Strategie gegen negative Gefühle wie Traurigkeit, Langeweile oder Einsamkeit, ergänzt Reutermann-Kämmerer. "Etwas Unangenehmes fällt weg für einen kurzen Moment, stattdessen kommen Belohnungsgefühle auf - wenn ich das immer wieder mache, schleift sich das als Strategie im Gehirn ein."

Corona-Pandemie steigerte das Risiko

Ich gönne mir was, gerade jetzt - dieser Gedanke verfing bei vielen wohl noch einmal verstärkt im Zuge der Corona-Pandemie. Das Online-Angebot sei in dieser Zeit enorm vergrößert worden, sagt Reutermann-Kämmerer. Es gab weniger Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten und Treffen mit Freunden, die psychische Belastung sei oft groß gewesen.

Daten des Statistischen Bundesamts zufolge hatten 30 Prozent der weit über eine halbe Million Menschen, die 2023 Hilfe bei einer Schuldnerberatungsstelle suchten, Schulden bei Online- und Versandhändlern. Der Anteil sei in den vergangenen fünf Jahren um vier Prozentpunkte gestiegen. "Besonders jüngere Überschuldete sind von offenen Verbindlichkeiten bei Online- und Versandhändlern betroffen."

Dem "Schuldneratlas Deutschland 2024" der Wirtschaftsauskunftei Creditreform zufolge gelten insgesamt gut acht Prozent der Erwachsenen als überschuldet. Eine Rolle spielen Experten zufolge "Buy now, pay later"-Ratenkredite, bei denen die Rechnung erst später beglichen werden muss. Nach Daten der Schufa ist inzwischen fast jeder zweite neu aufgenommene Ratenkredit ein Kleinkredit unter 1000 Euro. Creditreform sieht darin einen Grund für den Anstieg der Überschuldungsfälle bei jüngeren Menschen.

Wie erkenne ich, dass ich gefährdet bin?

Doch wie kann ich selbst erkennen, dass ich in eine Kaufsucht zu rutschen drohe? "Es ist total schwer zu definieren, was ein sinnvolles Kaufverhalten ist", sagt Müller. Ein wichtiger Schritt sei, eine genaue Übersicht über alle Ein- und Ausgaben zu erstellen. Mit Bargeld lasse sich der Überblick besser behalten als mit virtueller Zahlung. Zudem solle man sich für jeden Kauf klarmachen: Was war das Motiv dafür? Häufig aus reinem Impuls heraus Dinge zu kaufen, sei ein Warnzeichen. Immer wieder mehr auszugeben, als wieder reinkommt, auch.

Und was, wenn ich schon nicht mehr herausfinde aus der Spirale immer neuer Kaufattacken, sich die Schulden häufen und der Partner kurz davor ist, mich zu verlassen? In den meisten Fällen werde derzeit auf eine Verhaltenstherapie gesetzt, erklärt Reutermann-Kämmerer. Erschwert werde die Behandlung dadurch, dass eine vollständige Abstinenz anders als bei Drogen und Glücksspiel kaum möglich ist: Einkaufen muss jeder, Lebensmittel ebenso wie Kleidung und andere Dinge.

Therapie setzt auf Abstinenz

"Bei der Therapie wird auf Punktabstinenz für die besonders kritischen Bereiche gesetzt", sagt Reutermann-Kämmerer. Kleidung dürfe zum Beispiel nicht mehr online, sondern nur im Laden gekauft werden, zunächst vielleicht auch nur in Begleitung eines Familienmitglieds. Shopping-Apps würden vom Smartphone entfernt, Nutzungszeiten eingeschränkt oder es werde auf ein altes Handy gewechselt, mit dem man nur telefonieren kann.

Wichtig seien auch Einkaufslisten, die von spontanen zusätzlichen Käufen abhielten. Und: "Man sollte überlegen, was man anderes für angenehme Gefühle unternehmen kann." Oft sei eine langfristige Betreuung nötig, um nicht wieder in alte oder in ausweichende Muster zu verfallen, erklärt Reutermann-Kämmerer.

Macht KI alles noch schlimmer?

Schon 1983 lieferte Herbert Grönemeyer mit dem Lied "Kaufen" einen satirischen Kommentar zum Konsumverhalten und der obsessiven Natur des Einkaufens. "Oh, ich kauf' mir was. Kaufen macht soviel Spaß", heißt es darin. Der Song dürfte zeitlos bleiben. Künstliche Intelligenz lässt Unternehmen jedoch noch besser darin werden, für jeden Einzelnen herauszufinden, worauf er anspringt.

"Wir müssen dringend präventive Ansätze fördern", betont Reutermann-Kämmerer. Die Kompetenz, Mechanismen von Verkaufsplattformen, Influencer-Werbung und In-Game-Verkäufen zu erkennen und zu bewerten, müsse möglichst früh und wesentlich stärker vermittelt werden. Auch gesetzliche Regulierung sei ein wichtiges Thema. "Es bleibt eine Frage an den Gesetzgeber, inwiefern und ob man die Anbieter zum Schutz von Verbrauchern einschränken kann oder sollte."