Bewohner Kiews stehen nach dem russischen Großangriff aus der Luft unter Schock. "Es herrschte eine solche Hysterie, solche Schreie, solche Tränen", sagt eine Mutter: "Es war eine harte Nacht." Im Stadtbezirk Swjatoschinsky stehen viele vor dem Nichts.
Die blinde Frau zuckt jedes Mal zusammen, wenn Helfer und Feuerwehr Trümmer aus dem Inneren herausbringen und auf einen Haufen neben ihr werfen. Lyubov, 76 Jahre alt, sitzt vor dem Eingang ihres Wohnhauses in Kiews Bezirk Swjatoschinsky. Türen, Fensterrahmen und zerborstenes Glas liegen umher. Die Rentnerin hat 47 Jahre hier gelebt - jetzt ist die Wohnung unbewohnbar. Ihr Leben und das vieler anderer hat sich in wenigen Stunden radikal verändert.
In der Nacht zu Donnerstag überzog Russland die Ukraine mit Drohnen- und ballistischen Raketenangriffen. Einen so massiven Luftschlag hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Die ukrainische Hauptstadt wurde dabei an 15 verschiedenen Stellen getroffen. Mindestens zwölf Menschen verloren ihr Leben, darunter sind auch zwei Kinder. Mehr als 90 weitere Menschen wurden verletzt, davon sechs Kinder.
Ukraines Innenminister Ihor Klymenko sagte, Russland habe einen gezielten Angriff auf die zivile Infrastruktur in einem dicht besiedelten Wohngebiet durchgeführt. Mindestens 25 Wohngebäude, eine Schule und ein Kindergarten wurden allein in Kiew beschädigt. In der Nacht suchten mehr als 16.000 Menschen in der U-Bahn Schutz.
Retter rechnen mit Doppelangriffen
Das Wohnviertel, wo Lyubov lebt, wurde besonders hart getroffen. Erst habe man die Drohnen gehört, erklärt sie. Dann habe eine ballistische Rakete ein zweistöckiges Nachbarhaus getroffen und es dem Erdboden gleichgemacht. Insgesamt wurden zehn mehrstöckige Wohnhäuser stark beschädigt oder zerstört. Dabei könne man noch von Glück sprechen, dass es "nur" ein zweigeschossiges Haus war, das direkt getroffen wurde, sagt der Sprecher des Kiewer Zweiges des staatlichen Katastrophenschutzes DSNS, Pavlo Petro, der mit anderen Hilfskräften vor Ort ist. Hätte es ein größeres Haus getroffen, gäbe es weitaus mehr Tote.
Um zwei Uhr nachts rückten die Einsatzkräfte an, die Bergungsarbeiten gestalteten sich allerdings schwierig. Denn sei die Gefahr nicht gebannt gewesen, erzählt Petro. Während mit Suchhunden nach Menschen unter den Trümmern gesucht wurde, habe noch bis nach sechs Uhr morgens Luftalarm geherrscht. Die Retter rechnen jedes Mal mit einem Doppelangriff, so Petro - denn insbesondere bei zivilen Zielen wie Krankenhäusern und Wohnhäusern nehme Russland die Rettungskräfte ins Visier: "In so einem Fall suchen wir natürlich trotzdem nach den Menschen." Mit der Sicherung von Gebäuden werde abgewartet. "Wir lassen dann nur einen Teil unserer Einsatzkräfte das absolut Notwendige tun", sagt Petro. Der Rest warte in der Nähe in Sicherheit. Das rettet Leben: Ein Junge konnte am Morgen nach sechs Stunden verletzt geborgen werden. Ein weiterer Mann verbrachte acht Stunden unter den Trümmern.
"Sascha!", ruft Lyubov nach ihrem Sohn: "Er ist hier irgendwo." Er war es, der sie aus der Wohnung im zweiten Stock herausholte. "Ich spürte die Explosion und alles kam auf mich zugeflogen", erinnert sie sich. Dann fand sie sich unter Fensterrahmen, zerborstenem Glas und jeder Menge Staub wieder. "Sie riefen nach mir und zogen mich raus". Die Frau blieb unverletzt. Seit ihrer Rettung sitzt die Rentnerin mit einem Gehstock vor dem Haus auf einem Hocker und wartet ab.
Die Aufräumarbeiten um sie herum sind in vollem Gange. Lyubov erinnert sich daran, wie sie fünf Kinder in der Wohnung großgezogen, 37 Jahre lang in einer Fabrik gearbeitet hat. "Aber ich bin das einzige Haustier", scherzt sie. "Wissen Sie, in solch dunklen Zeiten braucht man ein wenig Humor. Leider weinen wir hier jeden Tag." Ihre Schwiegertochter kommt in Tränen auf sie zu - der Nachbar nebenan ist verstorben. Lyubov fasst sich bestürzt an den Kopf.
An anderer Stelle wartet die 38-jährige Natalya in einer Schlange mit ihrer achtjährigen Tochter Veronika. Es werden Folien verteilt, um die fehlenden Fenster provisorisch zu ersetzen. Sie ist in der Wohnung aufgewachsen, seit 35 Jahren lebt sie dort.. Als die Explosion das Wohnviertel traf, wollte sie gerade einen Geburtstagskuchen für ihren 2-jährigen Sohn Andryi backen. "Die Druckwelle hebt dich einfach hoch und wirft dich an die Wand", sagt Natalya. Sie habe Blut gesehen, sei aufgestanden und zu den Kindern gerannt. "Sie standen komplett unter Schock", erzählt sie: "Ich habe so gezittert."
Die Familie rettete sich nach draußen, vorbei am zerborstenen Fahrstuhl.In der U-Bahn-Station fanden sie Schutz. Die Kinder haben nicht viel geschlafen."Es herrschte eine solche Hysterie, solche Schreie, solche Tränen. Es war eine harte Nacht." Natalya, die an der Universität unterrichtet, überlegt nun, ins Ausland zu gehen. "Ich weiß, dass dort keiner auf mich wartet. Aber wenn unsere Zukunft auf dem Spiel steht, dann müssen wir leider unsere Pläne ändern."
Wohnungen ohne Fenster
Dmytro steht an einem Absperrband und schaut auf die Aufräumarbeiten am Haus seiner Schwester. Der 40-jährige Soldat trägt einen Gips am Bein und stützt sich auf Krücken. Dmytro ist sichtlich mitgenommen: "Es ist wirklich ein großes Wunder, dass alle überlebt haben." Ihm kommen die Tränen, die er schnell wegdrückt. "Ich war zu Hause und bekam einen Anruf, dass sie Hilfe bei der Evakuierung bräuchten. Ich befinde mich derzeit in Behandlung nach einer Verletzung, aber ich habe ein Auto und kann fahren."
Ein zweigeschossiges Gebäude, nur 30 Meter weiter, wurde direkt getroffen. Das Haus seiner Schwester hat keine Fenster mehr. Er zeigt Bilder der zerstörten Wohnung mit Trümmern in jedem Raum. "Ich half ihnen bei einigen Dingen, weil sie sehr verwirrt waren." Am Telefon habe er der Familie erklärt, welche Dokumente sie einsammeln müssten, bevor sie das Haus verlassen. An der Kreuzung wartete er auf sie, da die Einsatzkräfte niemanden durchließen.
Die Zahl der Verschollenen ist nicht bekannt, sagt DSNS-Sprecher Petro. Während die Welt auf die Verhandlungen über einen möglichen Waffenstillstand und Frieden blickt, bangen die Menschen um Angehörige. Für Dmytro setzen die Verhandlungen das falsche Zeichen: "Diese Bedingungen, die sie uns auferlegen wollen, sind inakzeptabel. Was die Russen hier getan haben, dafür sollten sie bestraft werden." Da sie militärisch nicht besiegt werden könnten, müsse man sie wirtschaftlich in die Knie zwingen, sagt der Soldat. Die Bewohner von Swjatoschinsky müssen nun nach neuen Bleiben suchen. Viele stehen vor dem Nichts.
Mitarbeit: Mariia Prokopenko